Gespräch mit Sólveig Jónsdóttir. Sie ist Vorsitzende des globalisierungskritischen Netzwerks ATTAC in Island und eine der neun Angeklagten der Reykjavik 9.
Sie sind zusammen mit acht anderen Aktivisten angeklagt, im Dezember 2008 an der “Stürmung” des isländischen Parlaments beteiligt gewesen zu sein. Hat es Solidaritätsbekundungen und –aktionen für die Angeklagten gegeben? Ja, im Mai wurde ein grosses Open Air Konzert in der Innenstadt von Reykjavik durchgeführt, auf dem Austurvöllur vor dem Parlamentsgebäude, wo auch die Protestkundgebungen im Winter 2008/2009 der “Töpfe- und Pfannenrevolution” stattfanden. Einige der beliebtesten Lokalmusiker traten auf. Eine ganze Reihe von ihnen erklärten ihre Solidarität mit den Reykjavik 9 und drückten ihre Empörung darüber aus, dass die Anklagen politisch motiviert sind. Mehr als tausend Menschen nahmen an diesem Konzert teil.
Ausserdem wurde eine Petition zur Unterstützung der Angeklagten organisiert. Ca. 700 Menschen unterschrieben die Petition. Sie drückten ihre Solidarität mit den Angeklagten aus und forderten, selbst unter dem Vorwurf, den Althingi (das Parlament) während der “Töpfe- und Pfannenrevolution” angegriffen zu haben, angeklagt zu werden, weil sie sich auch an den Protestaktionen beteiligt hatten. Viele prominente Künstler und Schriftsteller sind unter den Unterzeichnern der Petition.
Wie reagiert die Öffentlichkeit auf den Prozess?
Sie reagiert gemischt, wahrscheinlich 50-50. Zunächst war die Reaktion harsch and negativ, mit sehr feindseligen Kommentaren von Bloggern und Teilnehmern an Internetforen. Inzwischen gibt es sehr viel mehr positive Reaktionen. Das liegt zum Teil an den Solidaritätsaktionen der Unterstützer der Angeklagten, zum anderen an ausgewogeneren Darstellungen in den Medien.
Wie wird der Prozess ihrer Einschätzung nach enden?
Ich habe keine Ahnung. Mein persönliches Gefühl ist, dass es zu Verurteilungen kommen wird. Der Staat und der Althingi haben sich bezüglich des Prozesses keinen Millimeter bewegt.
In welche Richtung driftet Island im Moment?
Das politische Klima ist sehr angespannt. Viele sind von der linken Regierung enttäuscht. Sie hat sich bezüglich vieler Themen äusserst negativ verhalten, z.B. beim Thema Icesave
…der Frage, ob und wenn ja, in welcher Höhe, die isländischen Steuerzahler für die Verluste britischer und niederländischer Kunden einer isländischen Bank, die bankrott war, aufkommen sollen.
Es ist der Regierung nicht gelungen, konkrete Lösungen für die dringenden sozialen Probleme zu finden, wie z.B. die Notlage der am meisten verschuldeten Privathaushalte. Daraus haben die Konservativen Kapital geschlagen, in den Meinungsumfragen feiern sie gerade ihre Wiederauferstehung. Andererseits gibt es eine sehr weit verbreitete Desillusionierung bezogen auf alle Politiker.
Die Situation ist düster. Wegen der Unfähigkeit der Regierung, grundsätzliche Dinge anzupacken, z. B. die Frage der Privatisierung der geothermischen Resourcen, habe ich nicht viel Hoffnung für die nahe Zukunft.
Interview: Georg Brzoska, Tageszeitung junge Welt, 17.08.2010